Was ist Idiolektik?
Wenn Sprache nicht führt, sondern folgt.
Wenn Sprache nicht führt, sondern folgt.
Der Ausgangspunkt
Wenn zwei Menschen miteinander sprechen, begegnen sich mehr als nur Worte. Es begegnen sich innere Welten – jede mit ihrer eigenen Sprache. Diese Eigensprache ist so individuell wie der Mensch selbst. Sie zeigt sich in Metaphern, in Halbsätzen, in scheinbaren Nebensächlichkeiten. Und genau dort beginnt die Idiolektik: bei dem, was auftaucht, ohne dass es erklärt werden muss.
Idiolektik ist die Kunst, einem Menschen in seiner eigenen Sprache zu begegnen.
Es ist kein Fragekonzept, keine Methode, kein Kommunikationstraining.
Sondern eine Haltung, die davon ausgeht:
Die Sprache eines Menschen ist bereits sinnvoll – so wie sie ist.
Im Zentrum stehen Schlüsselwörter – Worte, Metaphern & innere Bilder, Formulierungen mit besonderer, oft unbewusster Bedeutung. Die Aufgabe der begleitenden Person ist nicht, diese Wörter zu analysieren oder zu „verstehen“, sondern sie aufzugreifen – und in Resonanz zu bringen. Eine kleine Geste, die oft große Wirkung hat.
„Immer ist da dieser Druck.“
– „Wie kann ich mir diesen Druck vorstellen?“
Nicht: „Woher kommt dieser Druck?“
Nicht: „Was könnten Sie tun, um ihn loszuwerden?“Sondern: eine Frage aus der Haltung des Nicht-Wissens.
Offen. Nah. Interessiert.
„Wie kann ich mir diesen Druck vorstellen?“ – eine Einladung,
nicht zur Analyse, sondern zum Spüren –
und oft ein Einstieg in die innere Bilderwelt.
Idiolektik kann dabei für sich allein stehen, als tragender Gesprächsraum über mehrere Sitzungen hinweg. Gleichzeitig lässt sie sich auch mit anderen Ansätzen verbinden: etwa mit Focusing, Validierung oder anderen methodischen Zugängen . Was bleibt, ist die Haltung: folgen statt führen, fragen statt erklären, mitschwingen statt steuern.
In der Idiolektik hat jede Formulierung Gültigkeit. Es gibt kein „besser ausgedrückt“, kein „gemeint ist doch sicher“. Sondern: ein echtes Interesse am Gesagten – in genau der Sprache, in der es gesagt wurde.
Was passiert, wenn wir Eigensprache nicht mehr durch unsere eigene Brille deuten, sondern ihr Raum geben?
Etwas bewegt sich. Etwas wird sichtbar, ohne benannt zu werden.
Die meisten Menschen sind es gewohnt, sich an andere anzupassen, sich klarer auszudrücken oder sich selbst zu korrigieren. Die idiolektische Haltung dreht das um:
Du bist eingeladen, so zu sprechen, wie es aus dir herauskommt.
Auch wenn es schräg klingt, zart, unlogisch oder noch unfertig. Gerade dann lohnt es sich, genauer hinzuhören.
Denn oft liegt in genau dieser Sprache etwas Eigenes, das wahr und stimmig ist – auch wenn es noch keinen Namen hat.
Nicht als Technik
Idiolektik ist eine Methode, die man erlernen kann – in ihrer Struktur, ihrer Logik, ihrer sprachlichen Klarheit.
Aber sie bleibt wirkungslos, wenn sie nur „angewendet“ wird. Denn im Kern ist sie mehr als ein Werkzeug: Sie ist eine Haltung.
Eine andere Art, Sprache zu begegnen – nicht als Mittel zum Zweck, sondern als Ausdruck eines ganzen Menschen.
Nicht, um etwas zu erreichen, sondern um da zu sein für das, was sich zeigen will.
Was diese Haltung auszeichnet?
Nicht vorschnell verstehen wollen. Nicht eingreifen.
Sondern: warten, horchen, mitschwingen – bis sich aus der Sprache selbst eine Richtung andeutet.
„Ich bin irgendwie wie abgeschnitten.“
– „Abgeschnitten …?“
Keine Nachfrage. Kein Interpretieren. Nur: ein behutsames Echo.
Und oft zeigt sich schon in der Stille danach ein neuer Raum.
In der Idiolektik geht es nicht darum, etwas „richtig zu verstehen“.
Sondern darum, das Gemeinte nicht vorschnell zu ersetzen.
Keine Analyse, kein Hinterfragen – sondern: Vertrauen in die Sprache selbst.
Wenn jemand sagt: „Es ist wie ein schwerer Mantel“,
dann interessiert uns nicht, was schwer ist, oder wieso der Mantel da ist.
Sondern wir bleiben genau bei diesem Bild.
Weil es eine Tür ist – zu etwas Eigenem, das sich zeigen will.
Diese Haltung braucht Mut zur Unklarheit. Geduld. Und Präsenz.
Die Methode lässt sich lernen. Die Haltung wächst – durch Erfahrung, durch Begegnung.
Und dort, wo beides zusammenkommt, beginnt echte Resonanz.
Und was verbindet.
In vielen therapeutischen und beratenden Ansätzen spielt Sprache eine zentrale Rolle – sei es, um Gedanken zu ordnen, Gefühle zu regulieren oder neue Sichtweisen zu ermöglichen. Jeder dieser Ansätze hat seinen eigenen Fokus, seine eigene Logik, seine eigene Sprache.
Die Idiolektik reiht sich nicht in diese Vielfalt als eine weitere Methode zur Veränderung ein. Sie geht einen anderen Weg:
Nicht verändern – sondern begleiten.
Nicht bewerten – sondern aufgreifen.
Nicht in eine Richtung führen – sondern mitschwingen mit dem, was sich zeigt.
Im Zentrum steht dabei nicht das Ziel, etwas zu „lösen“ – sondern der Zugang zur inneren Welt des Gegenübers.
Ein Gespräch wird nicht gelenkt, sondern eröffnet.
Was daraus entsteht, gehört dem Menschen – nicht der Methode.
Ansatz | Fokus & Ziel | Interventionen | Haltung der Begleitung |
---|---|---|---|
Kognitive Verhaltenstherapie (CBT) | Gedanken verändern, Verhalten steuern | Kognitive Umstrukturierung, Verhaltensexperimente | erklärend, strukturierend, zielgerichtet |
ACT (Akzeptanz- und Commitment-Therapie) | Mit dem Unveränderlichen leben, wertebasiert handeln | Achtsamkeit, Metaphernarbeit, Defusion | achtsam, prozessorientiert, haltgebend |
Systemischer Ansatz | Muster erkennen, neue Sichtweisen ermöglichen | Zirkuläre Fragen, Reframing, Externalisierung | kontextbezogen, ressourcenorientiert, aktivierend |
Lösungsfokussierte Kurztherapie | Zukunft ausrichten, Lösungen aktivieren | Wunderfrage, Skalierung, Zielklärung | ermutigend, fokussiert, lösungsnah |
Gesprächspsychotherapie (Rogers) | Selbstaktualisierung durch Beziehung | Empathisches Spiegeln, Kongruenz, bedingungslose Wertschätzung | präsent, nicht-direktiv, akzeptierend |
Idiolektik | Zugang zur inneren Welt, Selbstverständnis, Auflockerung des Denkens | Aufgreifen von Schlüsselwörtern, Resonanzfragen, keine Deutung | zuhörend, fragend statt wissend, vertrauend, zieloffen |
So verschieden diese Wege auch sind – sie alle gründen auf einer gemeinsamen Überzeugung:
Die Idiolektik teilt diese Haltung – und vertieft sie auf ihre Weise:
Indem sie nichts hinzufügt, nichts deutet, nichts lenkt.
Sondern einfach bei der Sprache bleibt – genau so, wie sie kommt.
Wenn der Igel sich einrollt…
Ein idiolektisches Gespräch beginnt oft leise.
Nicht mit der Suche nach einer Lösung. Nicht mit einer klaren Fragetechnik.
Sondern mit dem, was gesagt wird – und mit der Entscheidung, dabei zu bleiben.
Was sich zeigt, entscheidet nicht die Methode. Sondern der Mensch.
Die Begleitung folgt nicht einem Plan, sondern der Sprache, die sich entfaltet – Wort für Wort, Bild für Bild.
Ein Beispiel:
Klient: „Ich hab das Gefühl, ich bin irgendwie … innerlich eingerollt.“
Begleitung: „Wie kann ich mir das vorstellen?“
Klient: „Wie so ein Tier, das sich schützt. Ich weiß nicht genau wovor.“
Begleitung: „Was ist das für ein Tier …?“
Klient: „Vielleicht so was wie ein Igel. Klein.“
Begleitung: „Magst du mir mehr über den Igel erzählen?“
Klient: „Der rollt sich ein, wenn’s laut wird. Aber er hört ja trotzdem alles.“
Begleitung:„Das ist ja total praktisch! Was ist denn der Vorteil für den Igel, wenn er sich einrollt und trotzdem alles hört?“
Klient: (nach einer längeren Pause) „Er bleibt in Sicherheit … aber verliert nicht den Kontakt. Er kriegt mit, wann es wieder still wird.“
Was daran idiolektisch ist?
Keine Deutung. Kein Ziel. Kein Erkenntnisdruck.
Und doch: ein Moment von Bedeutung.
Weil Sprache nicht angepasst wurde – sondern gehört.
In dir & in Anderen
Wenn du einem Menschen in seiner eigenen Sprache begegnest, verändert sich etwas.
Nicht spektakulär. Nicht auf Knopfdruck.
Aber oft leise – und grundlegend.
Denn dort, wo nichts eingeordnet, verbessert oder „verstanden“ werden muss, entsteht ein Raum, in dem etwas ganz werden darf.
In der Idiolektik geht es nicht um Einsicht, sondern um Selbstkontakt.
Um die Erfahrung: Ich darf so sprechen, wie es aus mir herauskommt. Und jemand hört wirklich zu.
Das wirkt. Beidseitig.
Diese Wirkung ist nicht planbar. Sie geschieht.
Wenn Sprache nicht führt, sondern folgt.
David A. Jonas
Die Idiolektik ist nicht entstanden, um etwas Neues zu „erfinden“. Sie ist gewachsen – aus der Praxis, aus Begegnung, aus dem Wunsch, Menschen in ihrer Sprache zu begleiten.
Begründet wurde das idiolektische Konzept in den 1970er Jahren von David A. Jonas, einem amerikanischen Arzt, Psychiater und Psychotherapeuten, und seiner Frau, der Anthropologin Doris Jonas.
David Jonas war in New York tätig, später auch in London, Wien und Würzburg.
Sein Zugang zur Sprache war geprägt durch verschiedene Richtungen:
hypnosystemisch, tiefenpsychologisch-analytisch, humanistisch –
doch im Zentrum stand immer die Frage:
Wie klingt die innere Welt eines Menschen? Und wie kann ich ihr begegnen, ohne sie zu deuten?
Gemeinsam mit Kolleg:innen entwickelte Jonas eine Gesprächsform,
die nicht „fragt, um zu verstehen“, sondern fragt, um zu folgen:
Fragen, die an der Sprache bleiben.
Die nichts hinzufügen. Die nur öffnen.
Idiolektik ist, wie David Jonas es nannte,
„die Kunst eines bestimmten, bewussten, präzisen, professionellen und achtsamen Umgangs mit der Eigensprache einer Person.“
Diese Eigensprache ist wie ein sprachlicher Fingerabdruck – unverwechselbar.
Sie enthält mehr als Information: Bilder, Körperempfindungen, Gefühle, Erfahrungsspuren.
Die Wurzeln der Idiolektik reichen zurück in die klientenzentrierte Haltung von Carl Rogers
und die phänomenologische Grundhaltung, die nicht interpretiert, sondern ernst nimmt, was sich zeigt.
Nach dem Tod von David Jonas im Jahr 1985 wurde das Konzept von seinen Schüler:innen weitergeführt und vertieft: in Theorie, Praxis und Ausbildung.
Seitdem ist die Gesellschaft für Idiolektik und Gesprächsführung (GIG) Trägerin dieser Arbeit.
Ein gemeinnütziger Verein mit Sitz in Würzburg, der das Konzept im deutschsprachigen Raum verbreitet, pflegt und weiterentwickelt.
👉 Mehr zur GIG findest du unter www.idiolektik.de
Idiolektik erleben
Vielleicht hast du beim Lesen gemerkt: Das hier ist nicht einfach ein Konzept.
Es ist etwas, das man spüren muss.
Etwas, das man erst wirklich versteht, wenn man es selbst erlebt hat –
in einem echten Gespräch, in dem jemand deine Sprache hört, ohne sie zu deuten.
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